Für die konsequente Trennung von Kirche und Staat! Für das Recht auf Ausübung der eigenen Religion!

Wir haben uns hohe Ziele gesetzt: Den Kapitalismus zu überwinden und durch eine sozialistische Demokratie zu ersetzen, in der die enorme Produktivität der Arbeiter*innenklasse Wohlstand für alle Menschen ohne Zerstörung des Planeten bringen wird. Um diesen Kampf für eine befreite Gesellschaft gewinnen zu können, organisieren wir Betroffene der vielen Widerwärtigkeiten des Kapitalismus und versuchen, möglichst viele Menschen von unseren Ideen zu überzeugen. Denn dieser Kampf kann nur gewonnen werden, wenn wir es schaffen, in großen Teile der Arbeiter*innenklasse mindestens passive Sympathien für unsere Ideen zu wecken. Dabei bekämpfen wir Rassismus, Sexismus und die vielen anderen Diskriminierungsformen konsequent, denn sie spalten uns und mindern unsere Schlagkraft. Aber wie verhält es sich mit Religionen?

Schon seit über hundert Jahren wird darüber in der Arbeiter*innenbewegung gestritten. Auch in den letzten Jahren sind in der linken Bewegung, so auch in unserem Verband, Debatten darüber entbrannt: Wenn Religionsgemeinschaften den Menschen auf ein besseres Leben nach dem Tode vertrösten, schadet ihr Einfluss dann nicht dem Kampf um ein besseres Hier und Jetzt? Wenn in Predigten vor entschlossenem Klassenkampf gewarnt und stattdessen die Aussöhnung der Ausgebeuteten mit ihren Ausbeuter*innen beschworen wird, müsste die Arbeiter*innenbewegung dann nicht eine konsequente Trennlinie zwischen sich und Religionen ziehen? Wenn beispielsweise homosexuelle Paare oder Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, von fanatischen Gläubigen terrorisiert werden, müssten diese dann nicht sogar aktiv bekämpft werden?

Andererseits: Sind nicht auch religiöse Menschen in der Regel Arbeiter*innen, betroffen von der Notwendigkeit, ihre Arbeitskraft für einen viel zu geringen Lohn zu verkaufen? Sind nicht auch sie der Schikane durch Chefs, Jobcenter und andere Autoritäten ausgesetzt? Sollten Linke im Wissen, dass in Deutschland nach offiziellen und Eigenangaben zwischen 55 und 58 Millionen Menschen Mitglied in einer religiösen Vereinigung sind[1] und immerhin 58 Prozent der Bevölkerung an einen Gott glauben,[2] nicht die Religionsfrage völlig in den Hintergrund und soziale Themen in den Vordergrund stellen?

Unser Konsens ist, dass wir eine von Ausbeutung befreite Welt anstreben, die ohne Religion auskommt. Karl Marx schrieb in seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, dass jede Hoffnung auf eine befreitete Gesellschaft ohne Kampf im Hier und Jetzt vergebens sei und stellte klar: „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“[3] Einige Seiten vorher gibt Marx einen wichtigen Hinweis darauf, warum Religionen so attraktiv sind: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“[4]

Gegenstand der konkreten Auseinandersetzungen ist nicht, ob wir religiöse Menschen aus unseren Reihen oder gar der gesamten Arbeiter*innenbewegung verdammen sollten. Es geht um die Frage, wie man diesen großen Teil der Arbeiter*innenklasse für sozialistische Ideen gewinnen kann. Es geht darum, ob wir „ihre“ Religionsgemeinschaft in der Kritik schonen sollten, aus der Sorge, uns sonst den Zugang zu diesen Menschen zu verbauen. Es geht auch darum, wie Diskriminierung aufgrund von Religion sich auf die Betroffenen auswirkt, und was daraus für uns folgt – müssen wir gegenüber (eher diskriminierten) muslimischen Menschen eine andere Sensibilität an den Tag legen als gegenüber (eher akzeptierten) christlichen Gläubigen? Wie kann eine scharfe Religionskritik formuliert werden, ohne gläubige Menschen von unserem Kampf für eine bessere Welt auszuschließen?

Dieses Statement ist das vorläufige Ergebnis einer etwa einjährigen Debatte innerhalb der linksjugend [’solid] NRW. Die Debatte hat sich im wesentlichen um folgende Punkte entwickelt:

Kampf gegen Kirchenprivilegien
In Deutschland werden die katholische und die evangelische Kirche massiv staatlich gefördert: Die Kirchensteuern werden staatlich eingetrieben, viele Kirchenbedienstete sowie konfessioneller Unterricht an Schulen werden staatlich finanziert, Vertreter*innen sitzen in den Rundfunkräten der öffentlich-rechtlichen Sender, in kirchlichen Betrieben gelten Arbeiter*innenfeindliche Sondergesetze wie beispielsweise ein Streikverbot. Diese und viele weitere Regelungen sind in sogenannten Staatskirchenverträgen geregelt – aktuell gelten über 50 solcher Staatskirchenverträge in Deutschland (davon über 40 mit der römisch-katholischen oder der evangelischen Kirche sowie acht mit jüdischen Gemeinden).[5] Der bekannteste dieser Verträge, das sogenannte Reichskonkordat, wurde am 20. Juli 1933 zwischen der römisch-katholischen Kirche und der faschistischen deutschen Regierung getroffen und ist bis heute gültig.[6] Als Begründung für diese Sondergesetze werden meist die Teilenteignungen im Jahre 1803 aufgeführt: Unter dem Einfluss der napoleonischen Säkularisation (Staatliche Einziehung kirchlicher, nicht für die Religionsausübung benötigter Güter) wurden Ländereien und andere Besitztümer der Kirchen enteignet.[7]

Religionsunterricht an Schulen
Die NRW-LINKE forderte vor einigen Jahren die Ausweitung des Religionsunterrichts auf jüdischen und muslimischen Unterricht (ergänzend zu einem für alle Schüler*innen verpflichtenden Ethikunterricht). Außerdem sollte ein staatlich anerkannter Studiengang für Imame geschaffen werden.[8] Solche Forderungen sind sehr umstritten. Auf der Landesvollversammlung der linksjugend [’solid] NRW im Februar 2017 beschlossen wir, dass wir uns stark machen „für die Abschaffung von Religionsunterricht und seine Ersetzung durch Ethik- und Gesellschaftsunterricht“ sowie dass wir „entschieden gegen die Kirchensteuer [eintreten] und […] eine Entchristianisierung der Landesverfassung“ fordern.

Kopftuch-Debatte
Anfang August bezog sich die Bochumer LINKE-Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen auf ein Verbot von Vollverschleierung an niedersächsischen Schulen und kommentierte dazu: „Burka & Kopftuch sind heutzutage Kampfsymbole des politischen Islam.“[9] Daraufhin gab der Landessprecher*innenrat der linksjugend [’solid] NRW ein Statement heraus, in dem betont wurde, dass „Zwang und Kleidungsverbote“ Frauen* keinesfalls befreiten, sondern im Gegenteil den Betroffenen Schwierigkeiten bei dem Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt bereiteten und deren Religionsfreiheit einschränkten. Darin wurde betont, dass es einen Unterschied zwischen religiösen Symbolen in der Schule als Institution (wie sie beispielsweise vorkommt, wenn Kruzifixe an der Wand im Klassenraum hängen) und individuell getragenen religiösen Symbolen gibt.[10] Darauf reagierte wiederum die Bochumer Basisgruppe mit einem Statement, indem sie forderte, dass „Linke […] für eine ideologiefreie Schule […], die Abschaffung des Religionsunterrichts und für die Einführung von Ethikunterricht“ kämpfen sollten. Ihrem Landesverband und der Linken in Deutschland allgemein warf sie ein mangelndes Engagement gegen den „religiös verbrämten Faschismus, den Islamismus“ vor und beklagte, dass Kritik am Islam schnell als Rassismus deklariert werde.[11]

Bündnisse mit Islamverbänden
In dem bereits oben teilzitierten Beschluss von der Februar 2017-Landesvollversammlung wurde festgelegt, dass die Forderung aufgestellt werden solle, die Kooperation mit Ditib[12] in NRW müsse beendet werden. Insbesondere an dieser Frage gab es harte Debatten. Diese Auseinandersetzung gibt es immer wieder auch in der Frage, mit welchen Bündnispartner*innen wir gegen rassistische Tendenzen ankämpfen können: Ist die Mitarbeit in einem Bündnis legitim, in dem beispielsweise Ditib mitwirkt? Auf dem Bundesparteitag der LINKEN im Mai 2016 hielt Aiman Mayzek ein Grußwort. Mayzek ist Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, dem mit dem türkisch-islamischen Verband „ATIB“ auch eine Vereinigung angehört, die dem Spektrum der türkisch-faschistischen „Grauen Wölfe“ zugerechnet wird.[13] Auf dem „Marx is muss“-Kongress der auch in der linksjugend [’solid] NRW aktiven Vereinigung „Marx21“ sprach 2016 ebenfalls Mayzek, im Jahr zuvor die AKP-Sympathisantin Betül Ulusoy. Auf die Kritik, man würde im Kampf gegen die AfD auch mit reaktionären Kräften zusammenarbeiten, antwortete Marx21 in einem Statement, dass Muslime in Deutschland unter Generalverdacht gestellt würden und viel zu oft über sie, viel zu selten aber mit ihnen geredet würde. Leute wie Mayzek (der übrigens einen breit aufgestellten Dachverband vertrete und sich für einen toleranten Islam einsetze) seien für viele Muslime zu einer Symbolfigur geworden, man käme an solchen Personen nicht vorbei, wenn man die muslimische Community in den Kampf gegen Rechts einbeziehen wolle.[14]

Wir hoffen, die zentralen Konflikte und Differenzen einigermaßen objektiv und verständlich dargestellt zu haben. Der Diskurs wird oft sehr emotionalisiert geführt – da werden schnell Vorwürfe laut, man arbeite mit faschistischen oder rassistischen Tendenzen zusammen. Und tatsächlich werden von rechten Kräften teilweise Forderungen laut, die auch von manchen Linken aufgestellt werden. Wir möchten aber betonen, dass wir den respektvollen Dialog über die richtige Strategie hin zu einer sozialistsichen Gesellschaft und den Umgang mit Religion als Phänomen und religiösen Menschen dabei mit allen unseren Genoss*innen suchen wollen. Uns eint das Ziel einer klassenlosen, sozialistischen Welt – lediglich in konkreten strategischen und taktischen Fragen unterscheiden wir uns. Im Gegensatz zu den Feinden der Befreiung der Arbeiter*innenklasse, die wir hart bekämpfen, suchen wir deswegen die solidarische und respektvolle Debatte. Bevor wir zu den Ansätzen kommen, die die Mehrheit der linksjugend [’solid] NRW nach gründlicher Debatte als Beschlusslage festlegt, möchten wir einige Begriffe definieren, die in der Debatte immer wieder genannt werden:

Laizismus
Dieser Begriff beschreibt die vollständige Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften. Konkret würde das beispielsweise bedeuten, dass der Staat Kirchen und deren Aktivitäten nicht finanziert, Gottesdienste etc. aber auch nicht behindert.

Säkularismus
Hier wird eine Gesellschaft beschrieben, in der der Einfluss von Religion aktiv bekämpft wird. Dies muss nicht zwangsläufig oder primär durch den Staat geschehen. Eine säkulare Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die sich zunehmend verweltlicht, das heißt, dass Religionen nicht nur aus allem staatlichen, sondern auch im Privaten zurückgedrängt werden.

Marxistischer Humanismus
Der Marxismus stellt den realen Menschen und seine Befreiung in den Mittelpunkt. Ausgehend von dieser Zielsetzung wird die Realität analysiert und Strategien zur Befreiung des Menschen erarbeitet. Damit steht der Marxismus als materialistische Philosophie im krassen Gegensatz zu idealistischen Philosophien, die ihre Analyse nicht an der Realität, sondern an Wunschvorstellungen ausrichten. Der Marxistische Humanismus betont insbesondere die individuellen Bedürfnissen des Menschen und argumentiert gegen seine Unterordnung sowohl unter höhere Wesen, als auch unter die scheinbare Gesetzmäßigkeit der sozialistischen Revolution. Damit grenzt er sich ab von Vorstellungen, die in der Zweiten Internationale oder im Stalinismus verbreitet waren, nach denen sich geschichtliche Entwicklungen nach weitgehend vorhersagbaren Gesetzmäßigkeiten entwickelten und der individuelle Mensch sich dem unterordnen solle.
Während der Marxistische Humanismus sich weitgehend auf Marx‘ Frühschriften bezieht, hat Marx diese leicht idealistisch geprägte Auffassung teilweise kritisiert: In seinem Werk „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ schreibt er: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“[15] Die Geschichtsauffassung des Historischen Materialismus versucht, die dialektischen Wechselwirkungen von objektiven und subjektiven Faktoren zu erfassen und vermag es, wissenschaftlich die Entstehung und fortdauernde Attraktivität von Phänomenen wie Religion zu erklären.

Und so stehen wir zu den konkreten Fragen:

Kirchenprivilegien in der Arbeitswelt
Es gibt einen Konsens darüber, dass wir alle kirchlichen Sonderrechte in der Arbeitswelt abschaffen wollen. Millionenfach werden in kircheneigenen Betrieben (Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen…) Grundrechte wie das Streikrecht sowie Diskriminierungsverbote außer Kraft gesetzt. Hier suchen wir vor allem die Brücke zu den Beschäftigten – viele von ihnen leiden unter dem hohen Arbeitsdruck, miesen Löhnen und antiquierten Vorstellungen, denen sie unterworfen werden. Auch das in „normalen“ Betrieben geltende Streikrecht ist nicht vom Himmel gefallen – es kann auch in kircheneigenen Betrieben erkämpft werden.

Schwangerschaftsabbrüche und Verhütungsmittel
Krankenhäuser müssen dazu verpflichtet werden, Verhütungsmittel abzugeben und Schwangerschaftsabbrüche auch ohne Zwangsberatung durchzuführen.

Finanzierung der Kirchen
Kirchen müssen sich ausschließlich selbst (durch Spenden, Mitgliedsbeiträge, Erlöse durch den Verkauf von Büchern und ähnlichem) finanzieren. Die Praxis, dass der Staat die Kirchensteuer eintreibt, muss beendet werden. Auch die kircheneigenen Unternehmen, die nicht der Religionsausübung dienen, dürfen nicht zur Finanzierung dienen: Wir treten für die Enteignung dieser Betriebe ein. Stattdessen sollten sie dem Staat gehören und demokratisch von Beschäftigten verwaltet und kontrolliert werden, wobei Lehrpläne etc. gesamtgesellschaftlich festgelegt werden und bindend für alle Schulen gelten sollten.

Einfluss der Kirchen auf die Medien
Wir fordern, dass Kirchen keine Vertreter*innen mehr in Rundfunkräte entsenden dürfen. Wie alle anderen auch sollen Kirchenanghörige ihre Meinung kundtun dürfen, dabei aber nicht privilegiert werden.

Religionsunterricht
Wir sind gegen konfessionellen Religionsunterricht. Stattdessen fordern wir die flächendeckende Umsetzung des Orientierungs- und Ethikunterrichts in allen Jahrgangsstufen, in dem auch das Phänomen von Religionen und deren Inhalte thematisiert werden sollen. Die konkreten Lehrpläne sollen gesamtgesellschaftlich diskutiert und demokratisch festgelegt werden. Das sind aber eher mittelfristige Ziele – solange katholischer und evangelischer sowie nach Bedarf jüdischer und muslimischer konfessioneller Religionsunterricht angeboten werden, werden wir uns nicht gegen legitime Forderungen nach Gleichbehandlung stellen. Dabei gilt es den Einzelfall zu bewerten – steht die Gleichberechtigung beziehungsweise Ent-Diskriminierung oder doch die Teilhabe an Privilegien im Vordergrund? Wir würden von Mal zu Mal zwischen Zustimmung und Enthaltung abwägen, jedoch nach Kräften versuchen, die Debatte auf die Abschaffung von konfessionellem Unterricht generell zu lenken.
Wir setzen uns nicht nur für die Abschaffung von konfessionellem Religionsunterricht ein, sondern auch für die Verbannung von religiösen Ideologien aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht.

Religiöse Symbole
Wir sind gegen religiöse Symbole an und in öffentlichen Einrichtungen und gegen religiöse Symbole in Wahlräumen. Wir sind aber auch für das Recht von Menschen, ihre Religion auszuleben, auch durch das Tragen von dafür angemessen erscheinenden Symbolen. Wir unterscheiden – im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft – zwischen der Einrichtung selber und ihrem Inventar, den dort Beschäftigten, die konform zu funktionieren haben, und den Besucher*innen. Wir verteidigen das individuelle Recht auf von der Staatsdoktrin abweichende Meinungen. Beispielsweise würden wir uns gegen ein Kreuz an der Wand im Klassenzimmer aussprechen, aber für das Recht von Schüler*innen und Lehrer*innen, eine Kreuzkette zu tragen. Gleiches gilt für das Kopftuch.
Manche bringen gerne Niqab und Burka in solche Diskussionen ein. Das hat kaum reelle Grundlage, da nur sehr wenige Frauen in Deutschland sich voll verschleiern. In Belgien wurden sie nach einem Verbot völlig aus der Öffentlichkeit verdrängt – das Gegenteil dessen, was Sozialist*innen wollen. Wir treten für das Recht ein, sowohl einen Schleier zu tragen, als auch, ihn nicht zu tragen. Dabei sollen weder ein Staat noch Familienstrukturen Vorschriften machen. In den Fällen, in denen die verbreiteten Bilder der unemanzipierten, verschleierten Frau stimmen, erschwert es den Kontaktaufbau und damit auch den Aufbau von Selbstbewusstsein bis hin zur Ermächtigung und Befreiung, wenn sie aus der Öffentlichkeit verdrängt werden. Wir fordern die Förderung und den Ausbau von Beratungsstellen für Menschen, die sich von religiös motiviertem Einfluss auf ihr Leben emanzipieren wollen.

Bündnisse mit Ditib & Co
Der größte Dachverband islamisch-türkischer Moscheegemeinden Ditib wird weitgehend aus der Türkei finanziert und gesteuert. Er wirkt als verlängerter Arm Erdoğans reaktionärer Politik. Wir bekämpfen ihn, wie wir reaktionäre Kräfte generell bekämpfen. Dabei müssen wir uns im Auftreten aber scharf von rechten, rassistischen und nationalistischen Kritiker*innen unterscheiden – denn wir wollen zwar den Verband als solches Bekämpfen, keineswegs aber seine Mitglieder. Wie bei allen Kirchen ist der Großteil der Mitglieder ein Teil der Arbeiter*innenklasse – sie wollen wir für unseren Kampf gewinnen. Wenn rassistisch-islamfeindliche Kräfte gegen Moscheen mobilisieren, verteidigen wir diese – auch gemeinsam mit den Moscheemitgliedern – ohne mit dem jeweiligen Trägerverein ein politisches Bündnis einzugehen. Das heißt, dass wir mit eigenen Aufrufen, Slogans etc. mobilisieren und eigene Vorschläge nach einem aktiven Kampf gegen Rechts und seine oftmals sozialen Wurzeln verbreiten.

Feiertage
Aktuell ist die Debatte um Feiertage wieder entbrannt. Im Jahr 2017 gab es einen Feiertag mehr als sonst – zu Ehren Martin Luthers. Die Wirtschaft soll das angeblich 190 Millionen Euro Umsatzeinbußen gekostet haben. Als Debatten aufkamen, diesen Tag künftig jährlich zum Feiertag zu machen, hat sich der Unternehmerverband sofort scharf dagegen gestellt.[16] Wir hingegen finden mehr Feiertage super – sind sie doch Tage, wo wir endlich mal Zeit für Freunde, Familie, Sport oder auch die vielen unerledigten Aufgaben finden können. Dabei argumentieren wir natürlich für weltliche, fortschrittliche Anlässe – und davon gibt es genug. Beispielsweise wäre der Tag der Befreiung vom Faschismus – der 8. Mai – ein gutes Datum. In dem Sinne unterstützen wir nicht die Einrichtung von (mehr) konfessionellen Feiertagen, aber von Feiertagen allgemein. Wie auch bei der Frage vom Religionsunterricht würden wir, wenn andere Kräfte diese Forderung auf die Tagesordnung bringen, eine Ent-Diskriminierung dadurch fordern, dass der religiöse Charakter aller Feiertage (nicht aber die Feiertage selber) abgeschafft werden. Im Wissen, dass wir solche Diskurse aber nur mäßig beeinflussen können, würden wir uns bei entsprechenden Entscheidungen nicht dagegen stellen.

„Positive“ Sonderrechte
Aufgrund des Sonderstatus der Kirchen gibt es auch Sonderrechte, die sich konkret positiv auswirken können. Das trifft beispielsweise auf das Kirchenasyl zu, dank dem schon einige Abschiebungen verhindert werden konnten (auch wenn es – im Gegensatz zu anderen kirchlichen Sonderrechten – vom Staat teilweise hart angegangen wird).[17] Wären wir in einer Situation, wo wir große gesellschaftliche Macht hätten, würde es Schandtaten wie Abschiebungen nicht mehr geben – dann würden wir uns auch für die Abschaffung von diesem Sonderrecht einsetzen. Solange es aber in konkreten Kämpfen hilfreich ist, würden wir solche Rechte verteidigen – auch gegen einen laizistischen, rassistischen Staat wie Frankreich.

Eine ganz zentrale Frage ist für uns, wie wir die vielen Millionen religiösen Menschen für den Kampf um eine sozialistische Zukunft gewinnen können. Dabei möchten wir deutlich unterscheiden zwischen Gläubigen und den einfachen Mitgliedern von Religionsgemeinschaften auf der einen und Predigern, Apparaten etc. auf der anderen Seite. Wir denken nicht, dass wir den Draht zu Gläubigen primär dadurch aufbauen können, dass wir Zugeständnisse an Religionsgemeinschaften oder deren Sprecher*innen machen. Aber ausgehend von der Analyse, dass der Großteil der religiösen Menschen selber mit den vielen Widrigkeiten des Kapitalismus konfrontiert ist, wollen wir sie – völlig unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung – mit Angeboten zu diesen sozialen Problemen gewinnen: Mit nachbarschaftlicher Solidarität im Kampf gegen Miethaie, mit gewerkschaftlicher Organisierung gegen Arbeitgeber*innenwillkür, aber auch mit so kleinen, alltäglichen Dingen wie nachbarschaftlichen Bring- und Abholgemeinschaften zu Kindergärten. Kurz: Wir sehen in religiösen Arbeiter*innen nicht primär die religiösen Menschen, sondern die Arbeiter*innen.

Wir würden uns aber auch einmischen, wenn sich Reformbewegungen innerhalb religiöser Kreise formen würden. Gäbe es beispielsweise fortschrittliche Kräfte für die Demokratisierung von Religionsgemeinschaften, würden wir daran erstmal positiv anknüpfen. Jeder Kampf um Verbesserung basiert auf einem Vertrauen in die eigene Stärke und bringt Gedanken in Bewegung. Wenn wir die Ressourcen dafür haben, spricht nichts dagegen, solche Initiativen zu begleiten – ohne sich dabei positiv auf Kirchen oder Religionen an sich zu beziehen.

„Es rettet uns kein höh‘res Wesen“, heißt es in in der „Internationale“.[18] Das können wir nur selber tun – stark, organisiert, mit einem revolutionär-sozialistischen Programm. Religiöse Arbeiter*innen als Teil der Arbeiter*innenklasse werden in diesem Kampf eine wichtige Rolle spielen. Aber nicht in ihrer Eigenschaft als religiöse Menschen – sondern in ihrer Eigenschaft als Arbeiter*innen. Wir würden große Hürden aufbauen, wenn wir ihre Religiosität nicht respektierten, aber wir sollten sie auch nicht überbetonen. Um es mit Lenin zu sagen: „Die Einheit dieses wirklich revolutionären Kampfes der unterdrückten Klasse für ein Paradies auf Erden ist uns wichtiger als die Einheit der Meinungen der Proletarier über das Paradies im Himmel.“[19]

In diesem Sinne treten wir ein für die konsequente Trennung von Kirche und Staat, aber auch für das Recht auf Ausübung der eigenen Religion – und für den Kampf von gläubigen und nicht-gläubigen Arbeiter*innen für eine sozialistische Zukunft.

Fußnoten
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Religionen_in_Deutschland#Religionen_in_De…
[2] https://de.statista.com/themen/125/religion/
[3] Marx / Engels, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 378ff / http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_378.htm
[4] ebenda
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Staatskirchenvertrag
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Reichskonkordat
[7] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/enteignung-der-…
[8] http://www.dielinke-nrw.de/politik/positionen/l_r/religionsfreiheit/
[9] https://twitter.com/SevimDagdelen/status/893388175615209472
[10] https://www.facebook.com/ljs.nrw/posts/1585034451528877
[11] https://www.facebook.com/LinksjugendsolidBochum/posts/1440972445986735
[12] Ditib: „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion“ – Aus der Türkei finanzierter und weitgehend gesteuerter Dachverband der angeschlossenen türkisch-islamischen Moscheegemeinden, der größte islamische Dachverband in Deutschland.
[13] http://solidob.blogsport.de/2016/06/10/aiman-mazyek-beim-parteitag-in-md/
[14] https://www.marx21.de/muslime-allah-afd-jungle-world/
[15] Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. http://www.mlwerke.de/me/me08/me08_115.htm
[16] http://www.ndr.de/nachrichten/Einmal-Reformation-immer-Feiertag,reformat…
[17] https://www.br.de/nachrichten/kirchenasyl-justiz-pfarrer-100.html
[18] https://www.volksliederarchiv.de/wacht-auf-verdammte-dieser-erde-die-int…
[19] Lenin: Sozialismus und Religion, 1905. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1905/12/religion.html

Dieser Text wurde von der Landesvollversammlung am 24./25. Februar in Hamm beschlossen.