Beschlossen auf der Landesvollversammlung am 16./17. September 2023 in Köln

Als sozialistischer und feministischer Jugendverband wollen wir ein Raum sein, der Diskriminierung und Übergriffigkeit in seinen eigenen Strukturen nicht als Normalität akzeptiert. Um dagegen vorzugehen, haben wir Awarenessstrukturen, die nach Grundsätzen arbeiten, die wir im Folgenden ausführen und genauer definieren wollen.

Awareness ist für uns aber dabei nichts, was nur ein Team macht, sondern auch eine Aufgabe des Gesamtverbands. Das Ziel ist, dass alle Mitglieder Verantwortung für eigenes Handeln übernehmen und einschreiten und bei Bedarf unterstützen, wenn ein Gruppenmitglied Gewalt oder Diskriminierung erfährt. Eine sozialistische Organisation darf kein Ort sein, an dem Gewalt totgeschwiegen wird.

Als Teil unserer Awareness-Strategie wählen wir ein landesweites Awarnessteam. Das Awareness-Team unterstützt Betroffene in Fällen von Diskriminierung und Gewalt.

Dieser Beschluss stellt Awareness-Richtlinien gemäß § 15, Absatz (4) der Landessatzung dar.

 

Parteilichkeit

Die Gesellschaft und das aktuelle Justizsystem sind nicht in der Lage, mit Übergriffen und Diskriminierung gut umzugehen. Betroffenen wird nicht geglaubt und es wird der Anspruch eines „neutralen“ Urteils über Vorwürfe formuliert. Menschen, die von Unterdrückungsverhältnissen profitieren, wie bspw. Männern, wird oft eher geglaubt, und das ganze System ist so organisiert, dass sie eher die Möglichkeit zu übergriffigem Verhalten haben und eher damit davonkommen. Als sozialistischer Verband teilen wir den Anspruch neutraler Urteile nicht – wir haben eine politische Haltung gegen jede Form von Unterdrückung und blicken nicht „neutral“ auf Situationen, sondern erst einmal grundsätzlich parteilich mit den Unterdrückten dieser Welt.

Auch in unserer Awareness-Arbeit sind wir deshalb parteilich und berücksichtigen strukturelle Unterdrückungsverhältnisse. Unsere Awarenessarbeit geht von den Wahrnehmungen und Bedürfnissen der Betroffenen aus, ihr Ziel ist nicht, eine Strafe zu verhängen, sondern, Betroffene zu unterstützen und zu ermöglichen, dass der Verband für sie ein möglichst sicherer und guter Raum ist.

Da wir mit Parteilichkeit arbeiten, hat die Wahrnehmung der betroffenen Person Vorrang, wenn das Awareness-Team in die Kommunikation mit der angeschuldigten Person geht oder über Konsequenzen entscheidet.

Wir arbeiten nicht mit dem Ansatz „Definitionsmacht“, da Definitionsmacht die Reduktion einer Situation auf einen Begriff (die Definition), den die betroffene Person wählt (und wählen muss), zum Angelpunkt eines Awareness-Verfahrens macht. Unterschiedliche Menschen verstehen Begriffe unterschiedlich und Situationen (vor allem, wenn von verschiedenen Seiten Grenzüberschreitungen und Diskriminierungen stattgefunden haben) sind oft zu komplex, um mit einer Definition das Wesentliche gesagt zu haben. Deshalb halten wir die konkreten individuellen Wahrnehmungen und Bedürfnisse der involvierten Personen für einen hilfreicheren Ausgangspunkt.

Parteilichkeit kann niemals heißen, die Verantwortung dafür, einen vernünftigen Umgang mit einer Situation zu finden, auf Betroffene abzuschieben. Die Schilderungen und Bedürfnisse von Betroffenen sind immer der zentrale Ausgangspunkt von Awareness-Verfahren, es ist aber kein ernsthafter Umgang, Betroffene in die Verantwortung zu zwingen, einem genaue Konsequenzen zu diktieren. Stattdessen muss das Awarnessteam selbst aufgrund transparenter Handlungsprinzipien kollektiv eine Haltung zum Vorfall und dem richtigen Umgang damit entwickeln.

 

Wann genau ist das Awareness-Team zuständig?

Bei Diskriminierung ist das Awarenessteam zuständig, wenn es personalisierte Diskriminierung gegen eine spezifische Person gab. Bei allgemeinen politischen Äußerungen ohne konkreten Personenbezug, die als diskriminierend/problematisch betrachtet werden, kann das Awarenessteam ein Ansprechpunkt sein, um Betroffene mental zu unterstützen und sie ggf. bei der Erörterung möglicher politischer Maßnahmen zu unterstützen, aber es findet kein Verfahren durch das Awarenessteam mit den Maßnahmen des Awarenessteams statt.

Bei Übergriffen im Gruppenkontext (z.B. auf Landesverbandsveranstaltungen) ist der Handlungsimperativ immer gegeben. Grundsätzlich handelt das Awarenessteam tendenziell reaktiv auf Ansprache durch Betroffene, wenn aber durch externe Quellen Kenntnis von mehrfachen sexuellen Übergriffen vorliegt, ist auch ohne konkreten Betroffenenkontakt ein Handlungsimperativ gegeben. Generell ist proaktives Handeln bei sexuellen Übergriffen aus Betroffenenschutz-Sicht stärker sinnvoll als bei Diskriminierung.

 

Prozess in Awareness-Verfahren (Ablauf, Methoden)

Awareness-Verfahren beginnen immer mit einem Austausch mit der/den betroffenen Person/en und der gemeinsamen Analyse der Lage im Awarenessteam.

Darauf sollte immer ein erstes Gespräch mit der beschuldigten Person folgen, wo die Perspektive eingeholt wird und bei dem noch keine Konsequenzen kommuniziert werden, woraufhin ein erneuter Austausch im Awarnessteam stattfinden sollte, wo sich über die nächsten Schritte und ggf. auch über Konsequenzen geredet wird. Bei der Rekonstruktion von Situationen sind wir parteilich und kehren die Beweislast um, holen aber auch die Wahrnehmung der beschuldigten Person ein.

Konsequenzen sollten immer erläutert und begründet werden, anstatt sie einfach mitzuteilen.

Im Kontext von Gesprächen mit Betroffenen sollten Rahmendaten bzgl. der Vorwürfe (Kontext, spezifischer Vorwurf, Zeitpunkt, Ort) geklärt werden, aber keine genauen Abläufe abgefragt werden. Priorität hat das Wohlbefinden der Betroffenen. Betroffenen soll aber ein Rahmen gegeben werden, in dem sie sich sicher fühlen können, über die Tat zu reden, wenn sie das wollen und ihnen das hilft. Dafür soll ihnen explizit gesagt werden, dass sie das gern dürfen.

Als Awareness-Team kann es Sinn machen, Menschen, die Situationen mitbekommen haben, zu konsultieren und in Prozesse miteinzubeziehen.

Bei komplexen Fällen mit gegenseitigen Vorwürfen unterscheiden wir zwei Szenarien. Wenn die Vorwürfe verflochten sind und ungefähr symmetrisch erscheinen, behalten wir uns die Option vor, statt Awarenessmethoden Mediationsmethoden zu verwenden. Wenn die Vorwürfe nicht eng zusammenhängen oder von deutlich unterschiedlicher Tragweite erscheinen, behandeln wir die Vorwürfe und potenzielle Konsequenzen in getrennten Fällen.

Konsequenzen

Das Awareness-Team wägt unter besonderer Berücksichtigung der Wahrnehmung der Betroffenen die Konsequenzen für gewaltausübende oder diskriminierende Personen ab. Dabei ist der Handlungsspielraum durch die jeweilige Regelung in der Satzung eingeschränkt. Ggf. wird auch Kontakt mit den Basisgruppen der beschuldigten Personen aufgenommen, denen Konsequenzen vorgeschlagen werden.

 

Vertraulicher Umgang mit Informationen

Awarenesspersonen sollen keine Gerüchte verbreiten. Das inkludiert auch, dass öffentlich keine Aussagen wie “Oh nein, gerade ist ein sehr großer Fall reingekommen” oder Ähnliches fallen. Auch im privaten Rahmen sind zumindest sehr konkrete Äußerungen wie “Wir haben gerade einen Fall im Gremium X” nicht okay.

Eine Ausnahme sind Fälle, die zu Ausschlüssen führen, über die man reden kann und soll. Dabei wird auch Name und grober Anlass des Ausschlusses protokolliert.

 

Eindämmung von Gerüchten

Gruppenmitglieder außerhalb des Awareness-Teams haben prinzipiell das Recht, eigene Erlebnisse und Situationen, die man mitbekommen hat, mit anderen Menschen zu teilen. Im konkreten Fall kann es aber Sinn machen, Verbandsgossip einzudämmen und Leute zu bitten, nicht Sachen aus zweiter Hand weiterzuerzählen.

Das Awarenessteam darf und soll ggf. der Verbreitung falscher Gerüchte über Awarenessfälle widersprechen.

Rechenschaft von Awareness-Arbeit

Weil wir Awareness als Gesamtverbands-Aufgabe verstehen, sollte der Gesamtverband auch darüber informiert sein, ob das Awareness-Team gearbeitet hat und in etwa, wie oft. Deshalb gibt es einen Rechenschaftsbericht des Awarenessteams auf der letzten LVV eines Jahres mit Zahl von bearbeiteten Fällen, Statistik über Konsequenzen und grober Kategorisierung von Vorfällen. Bei unter 5 Fällen gibt es keine Infos bzgl. Konsequenzen und Kategorien. Auch bei mehr Fällen soll nicht mit konkreten Zahlen gearbeitet werden, sondern mit Angaben wie “Die meisten Fälle” oder “Die überwiegende Mehrheit der Fälle” usw.